Maßnahmen bei lebensbedrohlichen Gewalttaten

VDI Richtlinie 4062 Blatt 2: Vorbeugende Gefahrenabwehr bei Anschlägen

Die VDI 4062 zeigt, wie eine Evakuierung im Gefahrenfall ablaufen sollte. Anfang des Jahres ist mit dem Blatt 2 eine neue Richtlinie zur vorbeugenden Gefahrenabwehr von lebensbedrohlichen Gewalttaten wie Anschlägen publiziert worden. Crowd & Safety Expertin Sabine Funk erklärt die Hintergründe.

Achtung-Allarm-Sicherheit-Gefahr.(Bild: Shutterstock / Perserve)

Nachdem die „VDI 4062 – Evakuierung von Personen im Gefahrfall“ bereits im April 2016 veröffentlicht wurde, folgte nun im Januar 2021 das „Blatt 2 – Vorbeugende Gefahrenabwehr von lebensbedrohlichen Gewalttaten“. Die Richtlinie trägt der Tatsache Rechnung, dass es heutzutage deutlich mehr und deutlich andere Gefährdungen gibt als z.B. einen Brand oder eine Explosion (siehe VDI 4062, S. 3), und dass die Begründung der Evakuierung als Notfallmaßnahme, „weil Sicherheitsmaßnahmen nicht ausreichen, um Gefahren abzuwehren, oder weil Sicherheitsmaßnahmen unzureichend umgesetzt oder außer Kraft gesetzt wurden“ (ebd.), schlicht und einfach nicht mehr ausreicht. Und so zielt das Blatt 2 eben auf solche Maßnahmen, die helfen sollen, im Falle nicht vorhersagbarer Gewalttaten dennoch schnell und umsichtig agieren zu können.

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Für diejenigen, die bisher insbesondere die Musterversammlungsstättenverordnung als Erkenntnisquelle angesehen habe, sind sowohl die VDI 4062 als auch das neu veröffentlichte Blatt 2 in jedem Falle eine gute Bereicherung – und dabei tatsächlich auch eine sehr realistische. So schreibt die Richtlinie, dass ein solches Konzept „ausschließlich als Anhaltspunkt für Maßnahmen verwendet werden“ könne, „da nicht alle Situationen im Voraus richtig abgeschätzt werden können“ (VDI 4062 Blatt 2, S. 3).

Richtigerweise verweist die Richtlinie auf die Sonderstellung des Szenarios, das sich lageabhängig sehr von einer „normalen“ Evakuierung unterscheiden und durchaus spezifische Handlungsweisen nötig machen kann. Grund dafür ist, dass eine Evakuierung bei einem solchen Szenario „im Allgemeinen nicht gefährdungsmindernd ist“ (ebd. S. 13) – eine Tatsache, die schnell nachvollziehbar ist, wenn man die Worte Amoktat und Sammelplatz einmal in einem Satz zusammenbringt.

Argumentationshilfe für geschultes Personal

Das eigentlich Spannende ist aber natürlich, dass mit der Richtlinie noch einmal statuiert wird, dass solche Bedrohungen, solche Szenarien offensichtlich real und eintrittswahrscheinlich genug sind, dass man ihnen eine VDI Richtline widmet. Dies könnte insbesondere für diejenigen, die bisher als hysterisch oder schwarzseherisch bewertet wurden, wenn sie im Rahmen der Notfallplanung für eine Veranstaltung auf die Notwendigkeit eines solchen Szenarios hingewiesen haben, eine Unterstützung ihrer Argumentation sein.

Für diese Personen – also diejenigen, die sich bereits mit der Thematik befassen – bietet die Richtline nicht viel Neues: Ob der Hinweis auf sichere Orte, auf die eindeutige Kennzeichnung von Räumlichkeiten von außen und innen (und damit ist nicht gemeint „im Produktionsbereich die Treppe runter und dann hinten der Raum am Ende rechts“) oder der Verweis auf das Prinzip Flüchten, Verstecken, Alarmieren – keiner der Hinweise und keine Empfehlung kommen überraschend oder sind gar neu. Und dennoch: es ist hilfreich, wenn eine VDI Richtline die Notwendigkeit des geschulten Personals bestätigt und auch explizit auf die Einbindung von z.B. Fremdfirmen verweist (ebd. S. 14). Dies wird grundsätzlich auch bereits in der VDI 4062 postuliert – mit einem eigenen Abschnitt über die Anforderungen an die Helfer (vom „hinreichenden Aufgabenverständnis“ bis zum „Vorhandensein der notwendigen Handlungskompetenz“ (VDI 4062, S. 17)) sowie einem ebenfalls eigenen Abschnitt zum Thema „Sensibilisierungsprogramm (Awareness-Programm) für die Evakuierung“ (ebd. S. 22).

Personal im Einlassbereich wird in der neuen Richtlinie als besonders gefährdet bewertet.
Personal im Einlassbereich wird in der neuen Richtlinie als besonders gefährdet bewertet. (Bild: Louis.Roth/Shutterstock. No use without permission.)

Gute Einsehbarkeit vs. Versprünge und Versatze

Bei einigen der im Rahmen der Richtlinie getätigten Aussagen möchte man laut aufschreien – vor Freude, dass etwas endlich adressiert und Schwarz auf Weiß aufgeschrieben wird –, etwa wenn das Personal im Zutritts-/Einlassbereich als besonders gefährdet bewertet wird (VDI 4062 Blatt 2, S. 10). Auf der anderen Seite tauchen auch immer wieder Aussagen auf, die auf eine begrenzte Blickweite der Autoren hinweisen, wenn z.B. statuiert wird, dass „die wenigsten Besucher (…) einer Großveranstaltung (…) das System der Flucht-/Rettungswegbeschilderung“ (ebd.) kennen würden. Auch inhaltlich ist einiges problematisch, was aber in der Sache an sich liegt: Während gemeinhin für eine Entfluchtung und generell für eine gutes Sicherheitsempfinden gerade Wege, gute Einsehbarkeiten und generell eine gute Orientierung empfohlen werden, ist dies im Sinne dieser Richtlinie eher kontraproduktiv. Die „gefährdungsärmere Flucht“ (ebd. S. 8) benötigt Versprünge und Versatze – also alles, was wir im Rahmen der Sicherheitsplanung so mühsam loswerden wollen. Hier ist Genauigkeit gefragt: in der Gefährdungsanalyse, der Schutzzielbestimmung und der Ausarbeitung, damit Maßnahmen sich nicht konterkarieren.

Bezahl- und Verwertungsschranken vs. Öffentlichkeit

Am Ende bleibt nur eine Frage: Warum als VDI Richtlinie mit all den Bezahl- und Verwertungsschranken, die mit diesem Format einhergehen? Handelt es sich tatsächlich nur um notwendiges Wissen für Planer:innen? Während zum Beispiel die Engländer Werbespots mit Prominenten schalten, um das Thema Run, Hide, Tell so prominent und weitläufig wie nur möglich im Bewusstsein der Menschen zu verankern, schreiben wir kostenpflichtige Richtlinien über die Notwendigkeit der Sensibilisierung für das Thema. Während dort ein Merkblatt nach dem anderen herausgegeben, Film- und Unterrichtsmaterial produziert werden und ein ganzer YouTube-Channel zum Thema existiert, wird hier eine Richtlinie geschrieben.

Der nächste Schritt

Nun kann man es nicht dem VDI oder den Autoren der Richtlinie vorwerfen, dass wir auch bei diesem, im wahrsten Sinne des Wortes überlebenswichtigen Thema den deutschesten aller Wege gehen – im Übrigen an keiner Stelle auf die bereits bestehenden Unterlagen und Hilfsmittel z.B. der VBG referenzierend (z.B. www.vbg.de/SharedDocs/Medien-Center/DE/Plakat_Aushang_Aufkleber/Alarmplan_Amok.pdf)1. Aber wir, die wir das Ganze umsetzen, die wir Maßnahmen implementieren und das Leben unserer Besucher:innen schützen, wir sollten es besser machen.

Die Richtline richtet sich an Verantwortliche, an Planer:innen. Sie ist ein guter Anfang für diejenigen, die sich bisher nicht oder zu wenig mit dem Thema auseinandergesetzt haben. Für die anderen ist es eine Argumentationshilfe und Bestätigung des eigenen Handelns. Aber wir müssen nicht nur planen. Wir, die Planer:innen, die Verantwortlichen müssen die Lücke zwischen dem Blatt Papier und der Realität füllen.


1 Ein wenig seltsam mutet es allerdings dann doch an, dass die Verweise (VDI 4062 Blatt 2, S.24) ausgerechnet auf die amerikanische Herangehensweise Run, Hide, Fight verweisen – eine Herangehensweise, zu der die deutsche Polizei sicherlich nicht raten würde.

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