Wider den virtuellen Wahnsinn

Kommentar zum Nutzen von virtuellen Messeständen

Dr. Till Weishaupt, Konzeption & Strategie sowie Mitglied der Geschäftsführung bei ad modum, Agentur für Kommunikation, wettert gegen virtuelle Messestände.

Till Weishaupt, Till Weishaupt, Geschäftsführer ad modum
Till Weishaupt, Till Weishaupt, Geschäftsführung ad modum (Bild: ad modum)

Haben Sie ihn schon? Den virtuellen Messestand? Noch nicht? Panik! Alle Messen sind doch abgesagt. Wann finden die nächsten Messen statt? Ungewiss. Niemand kann in diesen Zeiten verlässlich planen. Aber wir müssen handeln. Aktionismus beruhigt. Also her mit dem virtuellen Messestand. Das Internet ist voll mit Angeboten. Sie dürfen aus drei verschiedenen Renderings wählen. Die individuelle Ausstattung mit einer virtuellen Palme? Leider Zusatzkosten. Aber das graue Sofa ist im Preis für das Basis-Rendering „Moderner Business-Stand“ enthalten. Und dann ist er fertig, der virtuelle Messestand!

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Fröhlich, heiter und voller Erwartungen betrete ich den Stand und lande mitten im Hype des technisch machbaren Schwachsinns! Ich klicke mich durch Marker-Punkte auf Schwingtüren von Raum zu Raum. Ohne VR-Brille sitze ich am 2D-Bildschirm und sehe ein mittelmäßiges Rendering – aber die Seile der Deckenabhängung sitzen! Ich sehe Autos und mein Blick wird von Absperrbändern gestört, ganz wie im physischen Raum. Allerdings sind wir hier nicht im physischen Raum. Ich klicke mich mit Steinzeit-Ladegeschwindigkeiten von Rendering zu Rendering. Im Hintergrund werden gerade die Abhängungen für die Darstellung der Klimaanlage geladen, das kostet Datenvolumen. Der sprechende Avatar ruckt, ungeduldig suche ich den nächsten Klick-Button. Mein Sohn betritt das Zimmer und fragt: „Papa, ist das ein Computerspiel aus deiner Kindheit? Sahen die Spiele damals so dämlich aus?“


„Aktuell verkaufen zahlreiche Anbieter eine 1:1-Übertragung der Realität in den ,virtuellen Wahnsinn‘. Nicht alles, was programmiert werden kann, ist auch sinnvoll“

Till Weishaupt, Geschäftsführung ad modum


Was ist der wichtigste Nutzen eines Messebesuchs?

Ja – wieder ein Kind. Des Kaisers virtuelle Kleider! Hier ist nichts. Aktuell verkaufen zahlreiche Anbieter eine 1:1-Übertragung der Realität in den „virtuellen Wahnsinn“. Nicht alles, was programmiert werden kann, ist auch sinnvoll. Mein Online-Banking zeigt auch keine Renderings von meiner nicht mehr vorhandenen Zweigstelle und erst recht keine „virtuellen Sitzgruppen“. Zeit zum Nachdenken. Welche Funktionen hat der älteste Marktplatz der Welt? Was zeichnet(e) eine Messe, wie wir sie kennen, aus? Was war der wichtigste Nutzen für den Messebesucher? Bestimmt nicht die technische Konstruktion der Deckentraverse. Ja, es geht um Produkte, um Produkteigenschaften. Aber machen wir uns nichts vor, Vertrieb 4.0 heißt auch, dass wir über das Internet voll und vorinformiert sind. Worum geht es also?


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Es geht um Menschen. Es geht um informelle Kommunikation, auch um die Zufallsbegegnung. Die Messe ist eine zeitlich begrenzte Wundertüte der zwischenmenschlichen Kommunikation. Der Dialog. Suchen wir Lösungen für Transformation und Substitution – nennen wir es digitale Ergänzung und Ermöglichung von Dialog und Produktkommunikation. Entwickeln wir Lösungen für die Ergänzung von physischen Veranstaltungen (ja, auch diese wird es wieder geben) und digitaler Erweiterung. Nennen wir es Hybrid-Lösungen. Aber auch hier gilt: Alter Wein in neuen Schläuchen, „Wetten, dass..?“ war schon immer eine Hybrid-Veranstaltung. Es geht um das intelligente Vernetzen von Räumen und Menschen und Inhalten. Die smarte Verbindung aus Chat-Funktionen, Live- oder Video-Content und emotionaler Aufbereitung von Inhalten. Und das Wichtigste: Das Ermöglichen von choreographierter und zeitlich fokussierter Kommunikation zwischen Menschen. Das ist Messe. Real, digital oder im Verbund.

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Kommentare zu diesem Artikel

  1. In all den Monaten jetzt hab ich vor allen Dingen von den Event-Ownern und Entscheidern gehört, dass sie wieder reale Messen und Events machen wollen. Ich selbst, hab mich auch schon für die BOE angemeldet. Und überall hört man, dass die Leute generell wieder raus wollen, sich treffen, gemeinsam reden und diskutieren.

    Ich bin der Meinung, je mehr alles um uns rum virtueller und digitaler wird, desto mehr Wert hat echter persönlicher Kontakt. Aber dann bitte ein wirklich echter und relevanter Kontakt, gerne auch auf Augenhöhe.

    Es bringt meines Erachtens wenig, eine Website “Messe” zu nennen bzw. zu glauben, dass man da was transferieren könne. Digitale Kommunikation ist doch schon älter – man sollte halt einfach auf die Erfahrungen von Webdevelopern aufbauen und in deren Logik interessante Kommunikationsformate schaffen. Wer hier Hilfe benötigt, wir sind da 🙂

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  2. Danke für die gute Zusammenfassung.
    Klar. Treffend. Auf den Punkt. Und wahr.
    Es bleibt spannend, wie wir weiter damit umgehen.

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  3. Top! Sehe ich genauso! UX-Irrsinn statt Content mit Nutzen.

    Leider werden sich kaum Gedanken gemacht, welcher Nutzen, welches Ziel eigentlich erreicht werden soll. Das war aber leider schon bei Präsenz-Messen schwierig (“mei, wir finde die Messe spassig” bis zu “unsere Wettbewerber sind halt auch da” war da alles dabei). Mit UX-Unsinn wird es online dann nur noch schlimmer und noch schlimmer: Der Kunde wird noch nicht mal dahingehend beraren, sich mal anzusehen, was die Menschen da eigentlich so gemacht haben, wo sie wirklich draufgeklickt haben und wie lang sie wo unterwegs waren … Budget weg, viele Teilhemer waren da: Erfolg bestätigt …

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  4. Danke für den Beitrag! Mir ist der Unterschied zwischen virtuellem Messestand und onlineshop nach wie vor nicht ganz klar. Mal abgesehen vom Verbrauch an Bandbreite und Serverkapazität.

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    1. Wo sehen Sie denn den Unterschied zwischen einem realen Messestand und einem Online Shop?
      Hier geht es doch auch um das Promoten und Verkaufen seiner Produkte, nur dass ich mich auf dem virtuellen Messestand eben nicht von Angesicht zu Angesicht vom Aussteller beraten werde, sondern über den Video-Chat.

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  5. Um aus der Falle der unnötigen virtuellen Redundanz herauszutreten und wieder den Mensch und die Kommunikation untereinander auf der “digitalen” Veranstaltung in den Vordergrund zu setzen, hilft, solang eine Präsenz noch nicht möglich ist, etwas was wir tagtäglich und nicht mit zu knappen Ressourcen sowieso betreiben: Social Media.
    Baut eure digitalen Event wie eine Social Media Plattform auf und kommentiert, interagiert, informiert euch genau wie ihr das sowieso gewohnt. seid. Stellt den 1-1 Austausch in den Vordergrund und nutzt eine Agenda und etwaige Ausstellerrepräsentanz als Vertiefungswerkzeug bei Bedarf. Und die passende Anwendung dazu gibt es bereits:
    graycon.de!
    Digitale Events eben nicht in der “Copy/Paste”- Falle …

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    1. Wie wahr Martin! Was ich da draußen vermisse ist der Gedanke an den User/den Teilnehmer, aus der Sicht eines Eventplaners und nicht aus der Sicht des IT-Speialisten, der fleißig programmiert. Wer überlegt sich eigentlich bei einem Rendering wie das für den User ist? Im Schlimmstfall lade ich mir vorher noch ein bescheidenes Programm herunter, damit ich an dem Event/Messe überhaupt teil nehmen kann. Dann hoffe ich darauf, das mein Computer das auch noch alles verarbeiten kann. Wichtig bei einem Event/Messe sind die Gespräche /das Netzwerken, Nachhaltigkeit – auch für den Aussteller – wer war da, was hat er gemacht ist er für mich interessant oder nicht? Kann ich einen Termin buchen? Kann ich in einen Videocall/Gruppencall/Networking, Bildschirmteilung? Inhalte spielen, die jeder offen und ehrlich kommentieren kann/ in Interaktion mit anderen treten? Kann ich auch aktiv mitmachen? Man braucht kein DVD Klickmenü aus den 90ern. Kommunikation und “an die Hand nehmen” des Teilnehmers sind das A und O! – Graycon – kann das! Schon jetzt – Events anders gedacht. 1:1 übenehmen funktioniert nicht. Habt ihr schonmal versucht den digitalen Daumen in natura vor jemandem zu erheben? Witziger Gedanke, aber was remote funktioniert, funktioniert nicht digital und umgekehrt. Das Team denkt genau diesen Gedanken – Was will der Teilnehmer – Frontalbeschallung? Eher nicht, oder was mein ihr?…

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  6. Top auf den Punkt. Noch schlimmer für uns als ausstellendes Unternehmen – meist ist man noch von den zweitklassigen 3D-Modellen der Messeveranstalter abhängig. Da sind Sachen dabei, da sieht man nocht nicht mal, ob Besucher am Stand sind.
    Fast eben so schwach sind übrigens die digitalen Zwillinge von Kongresszentren. Unsere Zielgruppe besucht Kongresse wegen der Qualität der Inhalte und dem persönlichen Austausch, nicht um Second Life zu spielen – und erst recht nicht um sich erst noch einen peinlichen Avatar ohne Beine zu bauen.
    Konsequenz – alle Messeteilnahmen abgesagt und Teilnahme nur an virtuellen Veranstaltungen, die wirklich auf die Bedürfnisse unserer Zielgruppen abgestimmt sind. Dafür mehr 1:1 Kundenbetreuung, die wird sehr gerne auch als Videocall angenommen, was die Effizienz des Vertriebs enorm steigert.

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  7. Wie eine Ablaufregie auf den Punkt ist persönicher Kontakt nicht schlecht, weil virtuelle Chargen und köstliche Inhalte, nie verspielt sind. Ich denke, ab und zu soll man unbedingt die marketing-, Messe- und Internetkonditionen enthusiastisch anfeuern, weil der Mut zu entscheiden, nicht auf Mainstream mit der technokratischen Telefongesellschaft ausgerichtet ist. Design hat wie das Wort Grafikdesign sehr viele sympathische Konditionen. Ich denke jedoch anfeuern bedeutet, man sollte nichts dagegen investieren, auf der Veranstaltung nur den besten Spielstand und immer die prominente Einladung, amüsiert und entspannt zu sein, prompt auszurichten. Diese positiven Eigenschaften sind unersetzbar, wohingegen sehr viele Begriffe aus der break even Literatur, niemand wirklich elekrisieren und Inhalte nicht forcieren können, sodass Erfolg dazu enorm ansprechend ist. Anfeuern begründet immer warum uns keine bessere Realpolitik gelingt und kein sympathischer Ersatz.
    Nette Grüße und Geschenke aus Berlin

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  8. Herr Weishaupt, ich kann Ihnen in allen Punkten nur zustimmen.
    Als Messedesignerin habe ich mich auch total gewundert, warum ich immer das Truss sehe – warum tauche ich nicht ein in ein verrückte Stand ein. Vielleicht unter Wasser, auf einer Insel etc. passend zum Kunden / Produkt.

    Nach über einem Jahr virtuelle Messen, an was erinnert man sich? – Ich persönlich an kaum etwas, wenn dann an die Vorträge aber definitiv nicht an die Messestände oder Ausstellerfirmen. Teilweise war bei den Ständen nicht mal ersichtlich um welche Produkte es ging. Erst durch laden diverser .pdfs hatte man den Einblick.

    Ich denke aber auch, dass es einige Banchen gibt, zu denen virtuell besser passt – vor allem Software- /IT Bereich, aber dann bitte mit ein bisschen mehr Abwechslung.

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  9. Genau richtig. Aber man muss auch nicht annehmen, dass die Evolutionen mit einer fertigen Lösung kommen. Wir sind in einer Testphase des Machbaren. Die Lösung kommt erst in der Zukunft. Gegen Leute zu schießen, die den Weg in die neue Welt ebenen ist aber schwach.

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